Heimatkunde

Was war eigentlich ein Nachbar?

(Günter Mauter)


Als der Deutsche Orden im 13. und 14. Jahrhundert den Elbinger Raum besiedelte, entstanden eine Menge neuer, "deutscher" Dörfer. Das Land war ja nicht leer, sondern es gab auch - zumindest Reste - prußische Dörfer. Manches Dorf  lag wüst. Viele prußische Namen sind noch nachweisbar: Tolkemit, Cadinen, Succase, Lenzen, Trunz, Wöcklitz, Meislatein, Plohnen, Bartkamm, Preuschmark…

Nach den Dorfgründungen durch einen Lokator, der dann meistens Erbschulz wurde, fühlten sich die neuen Bewohner bald heimisch. Sie bauten ihre Höfe und bestellten nach Anweisung durch den Schulzen gemeinsam die Felder (Gemeinheitswirtschaft). So eine Dorfgemeinschaft war eine "Nachbarschaft", die Bauern wurden "Nachbar" genannt (aus mhd. nachgebur, Nndl. nabuur, ne. neighbour u.ä.). Das Grundwort ist ein Soziativum "einer, der am gleichen Wohnort wohnt" (s. Bauer), zusammen mit "nahe", als "einer, der in der Nähe wohnt" (ná-búi). Abstraktum: Nachbarschaft.

Die Nachbarn waren die Hofbesitzer, also der "erste Stand" im Dorf. Über ihnen war der Erbschulz, aus ihnen heraus wurden die meistens zwei Ratsmänner (auch Dorfgeschworene, später Schöffen) gewählt, die den Schulz in seinen Belangen unterstützten und berieten. Während das 4-6 Hufen große (1 Hufe = 16,8 ha) Schulzengrundstück in der Regel zinsfrei war, mußten die Bauern nicht nur Geld an den Orden zahlen, sondern hatten auch Abgaben in Naturalien zu entrichten. Da die Böden auf der Höhe zum Teil sehr kaltgründig waren, stand der Ertrag in keinem Vergleich zu den fruchtbaren Schwemmböden der Niederung.

Die Bauern der Höhe waren größtenteils Untertanen der Stadt. Diesen Hörigen gehörten nur ihre Höfe, nicht aber das Land. Ihre Freiheit war beschränkt. So durfte kein Bauernsohn so einfach in die Stadt ziehen. Dazu bedurfte es einer Genehmigung des Rates der Stadt und bei positivem Bescheid war ein "Loskaufgeld"  zu bezahlen. Als nach 1772 (erste polnische Teilung) in der Stadt Arbeiter gebraucht wurden, fiel das Loskaufgeld weg. Aber es gab auf der Höhe auch einige freie Bauern, - in der Niederung waren alle Bauern frei. Dort fand auch die Besiedlung viel später und auch auf andere Art statt. Durch Eindeichung entstand hier erst nach und nach entsprechender Siedlungsgrund. Die Stadt setzte seit 1550 hier vorwiegend die aus Holland und der Schweiz aus Glaubensgründen geflohenen Mennoniten an, die nicht nur ausgesprochen fleißig waren, sondern auch sehr erfahren in der Trockenlegung und Bestellung des teils unter NN liegenden Landes (die Mennoniten werden in einem anderen Aufsatz behandelt).

In der Zeit zwischen 1827 und 1861 wurde auf der Elbinger Höhe die Separation durchgeführt. Damit hörte die Gemeinheitswirtschaft auf und die Bauern bekamen ihre Grundstücke zugemessen und zugeteilt. Manch einer verlegte nun seinen Hof in seine Felder und es entstanden die Abbauten. Dadurch verbesserten sich die wirtschaftlichen Zustände erheblich, und der alte Spruch: "Lieber in der Niederung ersaufen, als auf der Höhe verhungern", verlor seinen Wahrheitsgehalt. Alte Berichte aus dem 18. Jahrhundert und Anfang des 19. Jahrhunderts malten da noch ein düsteres Bild. Aus dem trunksüchtigen, verarmten und verwahrlosten Bauern der Vergangenheit, der sich am liebsten mit Holzkarren (Holz in die Stadt fahren) beschäftigte, und dessen Erlös gleich wieder in der Stadt vertrank, war der nüchterne, sparsame, fleißige und tüchtige Hofbesitzer der Gegenwart geworden. Das Gemeingut der Altstadt beendete 1827 als erstes die Separation, - Maibaum wurde als letztes Dorf 1861 damit fertig.

Nach der Separation war es nun auch möglich, Land vom Nachbarn zu kaufen oder zu pachten oder sein Land zu teilen. Einige Höfe erlangten dadurch die stattliche Größe von 6 Hufen, andere verkleinerten sich dermaßen, dass die Bauern die Familie kaum satt bekamen. Es entstanden Hofstellen, die nur noch eine viertel Hufe (4,2 ha) groß waren. Ttrotzdem behielt dieser Bauer in der Gemeinschaft seine volle Stimme.

Wenn man ins Kirchenbuch schaut und die Größe der einzelnen Familien betrachtet, dann kann man verstehen, dass zeitweise "Schmalhans Küchenmeister war", vor allem dann, wenn die Ernte nicht so gut ausfiel wegen Hagelschlag oder verregnetem Sommer. Natürlich konnte  nicht jeder Bauernsohn einen eigenen Hof bekommen. Oftmals dienten mehrere Brüder bei dem Hoferben als Knechte, bis sie irgendwo einheiraten konnten. Mancher Bauernsohn bekam so lange als "Notnagel" eine Stelle als Eigengärtner. Da man davon nicht alleine leben konnte mußte sich der Gärtner bei einem oder mehreren Bauern verdingen. Wenn aber ein "Nachbar" ohne, oder aber ohne männliche, Nachkommen starb, konnte dieser Gärtner, weil er Bauernsohn war, durch Heirat einer Tochter oder der Witwe wieder "Nachbar" werden. Er blieb "bauernfähig". Für "Einwohner", Instleute oder sonstige, dem niederen Stand angehörenden Dorfbewohner, war dieser Schritt nach oben  nicht möglich!

Während anfangs der Pfarrer bei den Hofbesitzern praktisch überall "Nachbar" als Stand ins Kirchenbuch schrieb, änderte sich dieses auch mit der Zeit. Jetzt kamen außer Nachbar auch genauere Angaben wie Vierhüfner, Zweihüfner, Einhüfner, Halbüfner oder Viertelhüfner. In Lenzen fand man schon frühzeitig im Kirchenbuch die Bezeichnung "Einsasse", was auch einen Bauern bezeichnete. In der katholischen Gegend (z. B. Neukirchhöhe) war die lateinische Bezeichnung colonus = Bauer gebräuchlich.


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